Eine Meinung vor der Wahl
Von Gesine Cody
Achtung: Dieser Text ist ein tendenziell unfreundlicher und sarkastischer Meinungsartikel ohne jeden künstlerisch oder inhaltlich wertvollen Anspruch. Dieser Text ist rein subjektiv und gibt in keiner Weise die Meinung unbeteiligter Dritter wieder. Dieser Text dient dem reinen Selbstzweck und soll niemanden persönlich angreifen, geschweige denn kritisieren.
Digitalisierung: Scheint sich ja viel geändert zu haben
Seit 20 Jahren arbeite ich direkt oder „random“ mit und in der IT-Branche. Ende der 1990er nannte man mich Journalistin, während der 2000er Online-Redakteurin/-Journalistin, seit ca. 2010 Senior Copy Writer, Content Editor, Technische Redakteurin oder Digitale Strategin. Ende der 1990er gab es Websites in HTML, heute in PHP oder whatsoever. Scheint sich ja viel geändert zu haben, seit den 1990ern.
Digitalisierung: ganz schön schwierig
Lese ich meine Notizen von 1998 steht da dasselbe drin wie 2021. Brauchen wir das wirklich (Website, Social Media, Usability, IT etc.)? Wollen Kunden das? Wie sollen wir Mitarbeiter für sowas motivieren? Das wird aber schwierig. Ich habe aufgehört zu zählen, wie häufig Situationen, Herangehensweisen und Herausforderungen in der medialen Berichterstattung als „schwierig“ bezeichnet werden. Vorteil: „schwierig“ ist die große Schwester von „Nicht machbar“. Prima: Dann können wir alle miteinander warten, bis was passiert. Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Machen Sie sich den Spaß und zählen Sie mal mit.
Digitalisierung: Endlich mal Nichtstun
Das Traurige am Lustigen ist, dass sobald das Wörtchen „schwierig“ genannt wird, erwachen alle in der Runde für wenige Sekunden, um umgehend wieder in den Dornröschenschlaf zu verfallen. Das Brutale am Romantischen ist: Es kommt kein Prinz zum Wachküssen vorbei. Stattdessen tanzt ein schadenfrohes Rumpelstilzchen auf dem Weltparkett „Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Digitalisierung heiß‘“.
Digitalisierung: Überbezahlte Sozialhilfeempfänger
Möglicherweise benötigen wir in Deutschland für jeden Schritt einen Vorab-Untersuchungsausschuss, ein Berater:innengremium oder sogar einen Zukunftsrat. Klingt auf alle Fälle megacool. Das könnte sich möglicherweise eine mit Sicherheit sehr erfolgreiche Marketingagentur ausgedacht haben. Wir haben sogar ein Ministerium für Digitalisierung, das gerne die äußerst umsatzstarke Gaming-Industrie hofiert, weil die umsatzstarke Gaming-Industrie aber auch wirklich dringend Unterstützung braucht. Was bringt das? Menschen sind mit überaus „schwierigen“ Themen beschäftigt und müssen dafür angemessen entlohnt werden. Zehnmal so viele (alleinerziehende) Hartz4-Empfänger:innen wären dagegen ein echtes Schnäppchen. Fördergelder liegen ungenutzt herum, weil (Man höre und staune), die Anträge so kompliziert sind, dass sie in der Wiedervorlagedauerschleife vergammeln.
Digitalisierung: Wie schön ruhig das hier ist
Anfang der 2000er berichtet mir eine Arbeitskollegin aus Potsdam: „An der Schule meines Sohnes haben die jetzt einen voll ausgestatteten Computerraum. Der wird aber nicht benutzt, weil die Lehrer sich weigern während der Sommerferien eine zweiwöchige Computerschulung zu machen“. 2021 erzählt mir eine Pflegedienstmitarbeiterin am Rostocker Stadthafen: „Wir haben jetzt alle Tablets bekommen. Wir können die aber leider nicht benutzen, weil die Software noch nicht funktioniert.“
Digitalisierung: Das hat man davon
Kein Wunder, dass die Software noch nicht funktioniert: Man hat irgendeinem (vermutlich dem Günstigsten) Entwickler irgendein vages Wunschprogramm gemailt und darauf vertraut, dass er das schon so verstanden haben wird, wie man das irgendwie haben möchte. Man hat bestellt und bezahlt. Entwickler brauchen Struktogramme, Flow-Charts o.ä. für Features und Funktionen. Sie brauchen klar strukturierte Vorgaben. Die bekommen sie nicht, weil es an der Qualifikation mangelt und häufig auch am Interesse. Man will IT eben nur benutzen, gestalten sollen mal die anderen. Bis die o.g Software funktioniert, werden die o.g Tablets veraltet und/oder nicht mehr kompatibel sein. Same same but different.
Digitalisierung: Wenn das Interesse fehlt
Aktionen wie z.B. der Girls‘ Day sollen Mädchen für MINT-Berufe interessieren. Wie sollen sich Mädchen für technische Berufe begeistern, wenn sie am Girls‘ Day teilnehmen und an diesem Tag, der ihnen gewidmet sein soll, eine Marketing-Veranstaltung des jeweiligen Unternehmens erleben? Liebe Unternehmer:innen: Lasst die Mädchen Eure Welt erkunden und schickt sie bitte mit einem Ergebnis nach Hause, das sie selbst erarbeitet haben.
Digitalisierung: Was man können könnte, wenn man wollte
Vorab: Die Zusammenarbeit mit jungen Menschen aus aller Welt (Spanien, Kanada, Ukraine, Weißrussland, Iran etc.) in der Berliner Start-Up Szene war zu 100% positiv. Trotzdem ist so, dass diejenigen, die Produkte und Dienstleistungen entwickeln, mehrheitlich aus allen möglichen Ländern der Welt kommen, nicht aber aus Deutschland.
Das Märchen von den Digital Natives
Ein „Digital Native“ sollte theoretisch jemand sein, der IT nicht nur nutzt, sondern maßgeblich gestaltet und weiterentwickelt. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass von allen Videokonferenztools, die wir genutzt haben, nicht ein einziges aus Deutschland oder Europa kam.
Digitalisierung: Fitness for future
Liebe Eltern, liebe Lehrer:innen: Nur weil jemand in drei Sekunden gefühlte vier Millionen TikTok-Videos produzieren kann, ist er oder sie noch lange nicht in der Lage digitale Zukunft zu gestalten. Junge Menschen müssen die Technologie verstehen, konzipieren und programmieren können. Die jungen Menschen in unserem Land haben es verdient so ausgebildet zu werden, dass sie diese Fähigkeiten erlernen. Fitness for future muss elterneinkommensunabhängig für alle sein. Sonst wird perspektivisch in wenigen Jahren Ende Gelände für die Jungen sein. Junge Menschen benötigen Medienkompetenz, damit sie sich in der digitalen Welt tatsächlich frei entwickeln können. Das geht nur, wenn sie recherchieren und Information von Manipulation unterscheiden können.
Die Fabel von der Digitalisierung
Seit den 1990er sprechen bundesdeutsche Medien und Politik in regelmäßigen absehbaren Abständen „mit Nachdruck“ auf allen Kanälen von der Digitalisierung. Leider findet die woanders statt. Menschen, die von Reisen zurückkehren, berichten, dass es in Marokko, Kenia oder Indien ein fantastisch schnelles Internet geben soll. Genauso wie in den USA seit den 2000ern flächendeckend Softwarepatente angemeldet werden, so dass (sollte hier doch mal Nachwuchs fundiert ausgebildet werden), die Entwickler:innen für jeden einzelnen Codeschnipsel eine Lizenzgebühr werden abführen müssen, die sie sich dann nicht leisten können werden. Letzteres ist eine existenziell bedeutsame Debatte, die seit Anfang der 2000er Jahre in Deutschland niemand interessiert.
Statt sich in Bewegung zu setzen, ist man (typisch deutsch) neidisch auf die Erfolge von Bezos & Co. und jammert über den totalen Steuernachlass für US-amerikanische IT-Pioniere. Hätten die sich nicht vor Jahrzehnten mit Neugier und Erfindergeist auf den Weg gemacht, gäbe es in Deutschland noch keinen einzigen Computer. Der Steuernachlass ist übrigens nicht von den IT-Pionieren höchstselbst verursacht, sondern durch die europäische bzw. bundesdeutsche Gesetzgebung.
Digitalisierung: Marketing statt Substanz
Seit den 1990er ist es keiner Partei gelungen Digitalisierung glaubhaft in die Tat umzusetzen. Vielleicht sitzen gerade jetzt in diesem Moment Menschen zusammen und konzipieren statt einer nachhaltigen Digitalisierungsstrategie mit anschließenden verbindlichen flächendeckenden Maßnahmen , die nächste kurzlebige Digitalisierungsmarketing-Imagekampagne. Liebe Leserin, lieber Leser: Wähle, wen Du willst und fordere Digitalisierung bei Deinen zukünftigen Abgeordneten ein. Sonst wird das nichts.